Auerochsen stehen in der Bibel für unbezähmbare Wildheit und Kraft. Leider sind diese beeindruckenden Rinder im Nahen Osten schon lange aus- gestorben und lebten dort wohl schon zur Zeit des Neuen Testaments nicht mehr. In Europa überlebten sie länger, doch auch hier starb das letzte Exemplar im Jahr 1672 in Polen.
Auerochsen oder Ure werden in deutschen Bibelübersetzungen auch als Wildochsen, Wildstiere oder Büffel bezeichnet und gelten als Stammform des Hausrinds. In Israel überschneiden sich die Verbreitungsgebiete des Europäischen Auerochsen (Bos primigenius primigenius) und des Afrikanischen Auerochsen (Bos primigenius africanus). Der genaue Ablauf der Nutzbarmachung durch den Menschen ist unklar, verschiedene Varianten sind denkbar.
ur:viecher
Genetisch liegen die unterschiedlichen Erscheinungsformen so dicht beieinander, dass man sie problemlos als verschiedene Rassen einer einzigen Art (im Sinne einer »Biospezies«) verstehen kann. Es ist auch möglich, dass es sich bei den Auerochsen um verwilderte Formen des Hausrinds handelt. Jedenfalls waren sie in Bezug auf Habitus und Temperament so weit von den gezähmten Vettern entfernt (Hi 39,9.10), dass an eine landwirtschaftliche Nutzung gar nicht zu denken war. Möglicherweise (je nach Datierung) handelte es sich beim Wildochsen, der in Hiob 30 als unzähmbar beschrieben wurde, auch um ein bis zu 2 Meter hohes und 700-800 Kilogramm schweres ausgestorbenes Steppenbison, das fossil in Israel und Umgebung nachgewiesen worden ist.

Obwohl Zusammenhang und Beschreibung in Hiob 39,9-12 für viele Gelehrte seit alters her eindeutig auf einen rinderartigen Vertreter hinwiesen, blieb die Zuordnung lange ungewiss. Der britische Archäologe Sir Austen Henry Layard legte 1846 in Nimrud ein Relief frei, das den assyrischen König Assurnasirpal II. bei der Jagd auf Auerochsen zeigt. Die Tiere werden darauf in Akkadisch als rim / rimu bezeichnet, was den Altphilologen die Verbindung zum hebräischen re’em eindeutig belegt. Dieses Wort leitet sich wahrscheinlich von ra’am mit der Bedeutung von »erhaben, erhöht, gewaltig« ab (vgl. Sach 14,10).

stich:probe
Kritiker der Bibel, die sie überwiegend für Mythos und Legende halten, haben ihre Freude daran, dass das Einhorn in einigen älteren Übersetzungen zu finden ist. Martin Luther stützte sich auf die griechische LXX, in der das hebräische re’em mit monokeros übersetzt wurde, sowie die lateinischen Übersetzungen Vetus Latina, in der es als unicornis bezeichnet wird, und die Vulgata, die es als monoceros wiedergibt. Alle drei Begriffe bezeichneten das »Einhorn« – ein pferde- oder ziegenähnliches Tier von besonderer Wildheit und Kraft mit einem langen, geraden Horn in der Stirnmitte, von dessen Existenz die zeitgenössischen Gelehrten fest überzeugt waren. In verschiedenen Heilkundebüchern war von den wundersamen Wirkungen seines Hornes und den daraus zubereiteten Arzneien zu lesen, und Weltreisende wie Marco Polo (1254–1324) berichteten, es auf der Insel Sumatra gesehen zu haben. Der Engländer Edward Webbe (1554 1590) will drei Einhörner im Privatzoo eines indischen Fürsten beobachtet haben, und der portugiesische Forschungsreisende Jerónimo Lobo (1593–1678) gibt an, einem Exemplar in Äthiopien begegnet zu sein. Luther hatte also keinen Grund, die Existenz von Einhörnern zu bezweifeln, zumal die ihnen zugeschriebene Anatomie durchaus im Bereich des biologisch Möglichen liegt und »Augenzeugenberichte« auch nach seiner Zeit (bis ins 18. Jahrhundert!) dokumentiert sind.

Von Professor Heinrich Sander (1754–1782) aus Karlsruhe stammt der früheste bekannte Hinweis auf die Fehlerhaftigkeit dieser Übersetzung. Da der Autor von land:läufer sich dem Anliegen, das dieser Theologe formulierte, zutiefst verpflichtet fühlt, sei ein ausführliches Zitat gestattet: »Durch das Licht der Naturkunde bin ich überzeugt, dass man einmal in der ganzen Schöpfung, soweit wir sie kennen, das Einhorn der Alten vergebens suchen wird, sodann, dass man in allen Stellen der Bibel, wo Luther und andere an das Einhorn denken, kein anderes Tier als eine Ochsenart verstehen muss. – Wer diese Untersuchung für unnütz und überflüssig halten wollte, der erinnere sich, dass es das Geschäft der Lehrer ist, den ganzen Inhalt der Bibel zu studieren; und alles, was menschliche Wissenschaften leisten können, zur Aufklärung dieses, für alle Menschen geschriebenen, reichhaltigen Buches anzuwenden; damit wir auch dem Spötter, dem Zweifler und dem Übelgesinnten begegnen und die Ehre dieser göttlichen Schriften retten können.« – Angesichts dieser frühen (und vieler später darauffolgenden) Einwände ist es allerdings verwunderlich, dass die notwendige Korrektur der Lutherübersetzung so lange verschleppt wurde, dass selbst in der Ausgabe von 1912 darin zu lesen war: »Hilf mir aus dem Rachen des Löwen und errette mich von den Einhörnern!« (Ps 22,22 Lu1912).
heavy:cattle
Am eindrucksvollsten wird der Auerochse von seinem Schöpfer selbst beschrieben: »Wird der Wildochse dir dienen wollen, oder wird er an deiner Krippe übernachten? Wirst du den Wildochsen mit dem Seil in der Furche halten können, oder wird er hinter dir her die Talgründe eggen? Wirst du ihm trauen, weil seine Kraft groß ist, und ihm deine Arbeit überlassen? Wirst du dich auf ihn verlassen, dass er deine Saat heimbringt und sie auf deine Tenne sammelt?« (Hi 39,9-12).

In Seiner »Schöpfungsrede« (Hiob 38-41) weist Gott Hiob mehrfach auf die Autonomie der Tiere hin. Ursprünglich waren sie alle der Herrschaft des Menschen unterstellt (1Mo 1,28; 2,19), doch nach dem Sündenfall konnte er diese Herrschaft nur eingeschränkt ausüben, obwohl er von den Tieren gefürchtet wurde (1Mo 9,2). So ist zwar der Auerochse ein Vetter des Hausrinds, würde sich aber niemals zähmen lassen oder von der Versorgung durch den Menschen (seiner Futter-»Krippe«) abhängig machen (Hi 39,9). Natürlich wäre es praktisch gewesen, wenn Hiob seine gewaltige Körperkraft für schwere Feldarbeiten wie das Pflügen oder Eggen hätte nutzen können (Hi 39,10), aber das wäre ein tollkühnes Unterfangen gewesen. Die Frage, ob er es nicht auf einen Versuch ankommen lassen will, wo es sich doch um so ein kräftiges Tier handelt (Hi 39,11), ist ironisch gemeint. Selbst wenn man es schaffen würde, den Wildochsen vor einen Wagen zu schirren, würde er diesen weder brav auf dem gewünschten Weg ziehen (Hi 39,12), noch die Ernte damit einbringen, sondern auf Nimmerwiedersehen verschwinden. So bleibt die große Kraft des Auerochsen ungenutzt. Gott hat sie nicht für den Menschen vorgesehen und will Hiob vielmehr zeigen, dass der Mensch seine Herrschaft über die Schöpfung und ihre Nutzung nur bis zu der Grenze ausüben kann, die Gott ihm gesetzt hat.
Die unbändige Kraft des Auerochsen lässt sich genauso wenig bezähmen, wie die sündige Natur des Menschen. Was bei Menschen unmöglich ist, ist allerdings möglich bei Gott (vgl. Mt 19,26). Saulus von Tarsus zum Beispiel war wie ein zerstörerischer Wildochse, der mit seiner ganzen Kraft gegen Gott arbeitete (Apg 9,1; Gal 1,13). Als Gott ihn bezwingt, gebraucht Er das Bild eines Ochsenstachels (Apg 26,14), durch den Er ihn zum »Apostel Paulus« macht – einem mächtigen Boten, der bereit ist, seine ganze Kraft in den Dienst seines Herrn zu stellen und auch vor Leid nicht zurückschreckt. Als Diener des Evangeliums wendet Paulus selbst das Bild auf sich an (1Kor 9,9.10). Er brachte eine gewaltige Ernte aus allen Völkern für Gott ein.

horn:ochse
In fünf Bibelversen wird auf die gewaltigen Hörner des Auerochsen Bezug genommen. In drei Fällen schildert Gott damit Seine eigene Macht: »Hörner des Wildochsen sind Seine Hörner. Mit ihnen wird Er die Völker insgesamt niederstoßen bis an die Enden der Erde« (5Mo 33,17, vgl. 4Mo 23,22; 24,8). In einem Vers beschreibt Er die Macht, die Er demjenigen verleiht, der auf Ihn vertraut: »Aber du wirst mein Horn erhöhen wie das eines Wildochsen …« (Ps 92,11) und in einem weiteren Psalm, wie der Herr Jesus, der Sohn Gottes, aus der Macht Seiner Feinde befreit wird: »Ja, du hast mich erhört von den Hörnern der Büffel« (Ps 22,22).

Hörner wurden als Instrumente (Hes 7,14; Dan 3,5.7.10.15) oder Trinkgefäße und zur Aufbewahrung von Flüssigkeiten (1Sam 16,1) verwendet. Der Name Keren-Happuch (Hi 42,14) bedeutet »Schminkhorn« und weist auf einen besonderen Verwendungszweck hin, und auch der griechische Name Kornelius (Apg 10) leitet sich von »Horn« ab. Mit der Hornsubstanz (Keratin), die nicht nur aus Hörnern, sondern auch aus Klauen und Hufen gewonnen wurde, ließen sich viele nützliche Alltagsgegenstände wie Löffel, Kämme, Nähnadeln und ähnliche Werkzeuge schnitzen.

- Gott selbst wird als »Horn des Heils« bezeichnet (2Sam 22,3; Ps 18,3). Konkret offenbart sich das in dem Herrn Jesus, durch den Gott »uns ein Horn des Heils aufgerichtet hat in dem Haus Davids, seines Knechtes« (Lk 1,69) – Er ist der Messias, das »Horn Davids« (Ps 132,17; Hes 29,21).
- Als das Lamm mit sieben Hörnern zeigt Er sich schließlich in der Offenbarung in vollkommener Macht. Die Sieben ist in der Bibel die Zahl der Vollkommenheit (Offb 5,6).
- Wenn Gott einem Menschen »das Horn erhöht«, bedeutet das, dass Er ihm Kraft verleiht und Befreiung schenkt (1Sam 2,1.10; Ps 75,11; 89,18.25; 92,11; 112,9; 148,14).
- Wenn ein Mensch selbst »sein Horn (gegen Gott) erhebt«, bedeutet das Auflehnung (Ps 75,5.6; Sach 2,4).
- Abgehauene, zerbrochene oder ausgerissene Hörner illustrieren Entwaffnung und Entmachtung (Ps 75,11; Jer 48,25; Klg 2,3; Dan 7,8; 8,7.8).
- Der Ausdruck »Ich habe Sacktuch über meine Haut genäht und mein Horn in den Staub gesteckt« (Hi 16,15) illustriert Trauer und Kapitulation.
- Hörner stehen für Regenten und Völker (Dan 7-8; Sach 2,2.4) oder noch konkreter: »die zehn Hörner, die du sahst, sind zehn Könige« (Offb 17,12; vgl. Offb 12,3; 13,1.11; 17,3.7.16). So werden in Daniel 8 zwei Weltreiche (nämlich Medo-Persien und Griechenland) als gehörnte Tiere (Widder und Ziegenbock) präsentiert, die, von Hass und Rachedurst erfüllt, ihre ganze Kraft dafür einsetzen, ihre Macht zu vergrößern, so wie es in der Natur des Menschen liegt und man es auch bis heute in der Welt leider oft beobachten kann. – Der Herr dagegen verzichtete freiwillig auf den Einsatz Seiner »Hörner«, Seiner grenzenlosen Macht (vgl. Phil 2,5-8).
voll:macht
Gott illustriert Seine Macht durch das Bild der Hörner des Wildochsen; und das ist nur ein schwacher Vergleich. Während der Mensch (ohne technische Hilfsmittel) nicht die Kraft hat, einen Wildochsen zu bändigen, lässt Gott sogar ganze Gebirgsmassive wie einen Wildochsen hüpfen (Ps 29,6). Ein Wildochse würde keinesfalls auf die Gewalt seiner Hörner verzichten und seine Freiheit aufgeben. Die kurze Beschreibung im Buch Hiob macht deutlich, wie ganz anders sich Gott als Mensch in dem Herrn Jesus offenbart hat:
- »Wird der Wildochse dir dienen wollen, oder wird er an deiner Krippe übernachten?« (Hi 39,9) – Der Herr Jesus übernachtete nicht nur an einer Krippe, sondern ließ sich sogar in eine Krippe hineinlegen, weil in der Herberge kein Raum für ihn war (Lk 2,7). Er kam, um als vollkommener Knecht (Jes 53) zu dienen und Sein Leben als Lösegeld zu geben für viele (Mk 10,45).
- »Wirst du den Wildochsen mit dem Seil in der Furche halten können?« (Hi 39,10) – Der Herr Jesus wurde von Seinen Feinden festgenommen, gefesselt (Mk 15,1; Jh 18,12) und abgeführt. Das ließ Er freiwillig mit sich geschehen und ging auch den Weg ans Kreuz in eigener Regie, um dort Sein Leben aus freien Stücken in den Tod zu geben (Jh 10,17.18).
- »Wirst du ihm trauen, weil seine Kraft groß ist, und ihm deine Arbeit überlassen?« (Hi 39,11) – Während man der großen Kraft des Wildochsen nicht trauen kann, sollen wir dem Herrn sogar vertrauen (Ps 37,5; Spr 3,5) und dürfen wissen, dass Er das Erlösungswerk vollbracht hat. Er war der Einzige, der das tun konnte – deswegen blieb uns gar nichts anderes übrig, als Ihm in dieser Hinsicht »die Arbeit voll und ganz zu überlassen«.
- »Wirst du dich auf ihn verlassen, dass er deine Saat heimbringt und sie auf deine Tenne sammelt?« (Hi 39,12) – Der Gläubige darf darauf vertrauen, dass sämtliche geistliche Frucht, die während seines Lebens von dem Herrn Jesus in den Himmel »heimgebracht« wird, in Sicherheit ist (Mt 6,20; Lk 12,33) und belohnt wird: »Siehe, ich komme bald, und mein Lohn mit mir, um einem jeden zu vergelten, wie sein Werk ist« (Offb 22,12).

Quellennachweis:
Beja-Pereira, A; Caramelli, D; Lalueza-Fox, C: The origin of European cattle: Evidence from modern and ancient DNA. Proceedings of the National Academy of Sciences 2006; 103(21):8113-8118; doi: 10.1073/pnas.0509210103
British Museum: Wall Panel of Nimrud, North West Palace, Museum number: 124532. https://www.britishmuseum.org/collection/object/W_1847-0623-12
Rokosz, M: History of the Aurochs (Bos Taurus Primigenius) in Poland. Animal Genetic Resources 1995; 16:5-12; doi: 10.1017/S1014233900004582
Sanders, H: Kleine Schriften, nach dessen Tode herausgegeben von Georg Friedrich Odtz (Vom Einhorn, besonders dem Einhorn in der Bibel, Bd. 1, S. 101-114). Dessau (Buchhandlung der Gelehrten) 1784
Van Vuure, T: History, Morphology and Ecology of the Aurochs (Bos Primigenius). Citeseer 2002; https://citeseerx.ist.psu.edu/document?repid=rep1&type=pdf&doi=7cd5da765261db6b99ce44361fa8078ec7951c42
WELT: Sibirisches „Einhorn“ noch nicht lange ausgestorben. Welt.de, 01.04.2016; aufgerufen am 31.10.2023: https://www.welt.de/wissenschaft/article153896777/Sibirisches-Einhorn-noch-nicht-lange-ausgestorben.html
Bildnachweis:
Wikipedia: Titel – Auerochse – Höhlenmalerei von Lascaux / Peter 80 // Spanischer Stierkampf / Ввласенко // Einhorn-Modell / Adrian Michael // Einhorn-Darstellung / National Library of Medicine // Relief – Jagd auf den Auerochsen / Ealdgyth // Auerochsenhörner / Wolfgang Sauber
andere Lizenzen: Heckrind (Auerochse) / shutterstock ID_1555339544 / Simon Vasut // Heckrind-Kuh / shutterstock ID_1009287322 / David Dirga // Watussi-Rind / shutterstock ID_742163947 / Saad315 // Auerochsensklett / 84346935_3857773954263043_21854544832013 27104_n.jpg / Landesmuseum für Vorgeschichte Halle
Link zum Buch: https://www.daniel-verlag.de/produkt/landlaeufer
