Das hebräische Wort nescher ist (genau wie sein griechisches Gegenstück aetos) eine Bezeichnung für große Greifvögel, die verschiedene Arten von Adlern und Geiern zusammenfasst. Glücklicherweise werden oft weitere Merkmale genannt, sodass eine genauere Zuordnung trotzdem möglich ist.
schlag:kraft
Adler sind nicht nur außerordentlich stark, sondern trotz ihrer Größe auch sehr schnell und wendig. Für viele Menschen sind es die beeindruckendsten Vögel überhaupt – die Könige der Lüfte. Auch wenn die Rekorde hinsichtlich Größe, Gewicht, Geschwindigkeit und Intelligenz an anderes Federvieh gehen, was Schlagkraft und Angriffswucht betrifft, macht ihnen keiner etwas vor.

Der Steinadler (Aquila chrysaetos) zählt zu den größten Vertretern und wird in den asiatischen Steppen sogar zur Jagd auf ausgewachsene Wölfe abgerichtet. Er kommt seit dem Altertum ganzjährig in Israel vor und scheint ein geeigneter Kandidat für nescher und aetos zu sein, soweit in dem betreffenden Vers nicht eindeutig ein Geier gemeint ist. Außerdem leben der Habichtsadler (Aquila fasciatus) und der Östliche Kaiseradler (Aquila heliaca, überwiegend als Wintergast) in Israel, die beide ein wenig kleiner sind. Etwas seltener kommen Steppenadler (Aquila nipalensis), Schlangenadler (Circaetus gallicus), Schreiadler (Clanga pomarina) und Zwergadler (Hieraaetus pennatus) vor.
Die Merkmale des schnellen und unerschrockenen Jägers machen den Adler zu einem starken Symbol für Heldentum im Kampf, wie bei Saul und Jonathan: »sie waren schneller als Adler« (2Sam 1,23), aber auch für plötzlich und gewaltsam hereinbrechendes Unheil (Hi 9,26; Jer 4,13; 48,40; 49,22; Klg 4,19; Hos 8,1; Hab 1,8).

Noch auf der Wüstenreise warnt Gott sein Volk Israel, dass Er sie für Ungehorsam und Götzendienst richten würde: »Der HERR wird ein Volk aus der Ferne gegen dich aufbieten, vom Ende der Erde, das wie ein Adler daherfliegt, ein Volk, dessen Sprache du nicht verstehen kannst« (5Mo 28,49 SB). Im Rückblick lässt sich erkennen, dass in diesem Kapitel die Eroberungen Israels durch die Assyrer, Babylonier und Römer (in dieser Reihenfolge!) vorhergesagt werden. Zuletzt kamen die Römer. Sie sprachen Latein – eine nicht-semitische, fremde Sprache – und rückten nicht nur mit der Gewalt eines Adlers heran, sondern trugen ihn auch als Feldzeichen vor sich her.

In den Visionen vier lebendiger Wesen, die Gottes Eigenschaften darstellen, wie sie auch der Herr Jesus als Mensch auf der Erde offenbart hat, symbolisiert der Adler den vom Himmel gekommenen Sohn Gottes in Macht und Majestät (Hes 1,10; 10,14; Offb 4,7), wie ihn besonders das Johannesevangelium vorstellt.
In Israel ist »Adler« (also »Nescher«) als Personenname nicht überliefert, aber aus den Nachbarländern schon. So trug einer der sieben Hofbeamten des König Xerxes (Ahasveros) den persischen Namen Karkas (Est 1,10) und auch der Name Aquila bedeutet »Adler«. Er war Freund, Reisegefährte und Mitarbeiter des Apostel Paulus und trug diesen lateinischen Namen, obwohl er Jude war (Apg 18,2.18.26; Röm 16,3; 1Kor 16,19; 2Tim 4,19).

rund:erneuerung
Wahrscheinlich liegt dem Bild der Erneuerung die Greifvogelmauser zugrunde: »Wie sich bei einem Adler das Gefieder erneuert, so bekommst du immer wieder jugendliche Kraft« (Ps 103,5 NGÜ) und: »Die auf den HERRN harren, gewinnen neue Kraft, dass ihnen neue Schwingen [Schwungfedern] wachsen wie den Adlern, dass sie laufen und nicht müde werden, dass sie wandern und nicht ermatten« (Jes 40,31 Me).
Über diesen Vorgang kursieren einige Darstellungen, die ins Reich der Legende verwiesen werden müssen. Zum einen werden Adler nicht uralt, wie oft zu lesen ist, sondern erreichen nur in Ausnahmefällen mehr als dreißig Lebensjahre (sowohl wildlebend als auch in Gefangenschaft). Zum anderen ist es keinesfalls so, dass ein alter Adler in einem spektakulären Vorgang der Verjüngung alle Federn abwirft und später, mit frischem Gefieder, wie ein jugendlicher wiederauftaucht. Vielmehr führen alle im Buch aufgeführten Adler und Geier eine kontinuierliche Staffelmauser durch.
Dieses Bild passt auch viel besser zur geistlichen Bedeutung. Idealerweise befinden wir uns in einem beständigen Prozess: »Denn wenn wir auch äußerlich aufgerieben werden, so werden wir doch innerlich jeden Tag erneuert« (2Kor 4,16 NeÜ). Genau das beobachten wir bei den Adlern. Sie verbringen viel Zeit damit, ihr komplexes Federkleid sorgfältig zu reinigen, zu ölen, zu ordnen und zu inspizieren. Dazu gehört, dass sie beschädigte Federn ausreißen. Besonders die Hand- und Armschwingen, die fast einen halben Meter lang werden, sowie die Steuerfedern des Schwanzes müssen immer perfekt in Form sein. Geschwindigkeit, Präzision und Sicherheit im Flug stünden auf dem Spiel, sollten sie die Gefiederpflege auch nur für einen Moment vernachlässigen. Mit der gleichen Sorgfalt schärfen sie auch ihre Waffen, den scharfen Schnabel und die starken Krallen. Das alles lässt sich gut auf den tieferen Sinn der drei Bibelstellen übertragen. Das Geheimnis jugendlicher Vitalität des Christen besteht in der ständigen Erneuerung und Erfrischung des inneren Menschen durch die Gemeinschaft mit Gott im Gebet und das Lesen der Bibel.
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Mose beschreibt Gottes Fürsorge und Erziehungsmethodik folgen dermaßen: »Wie der Adler sein Nest aufstört, über seinen Jungen schwebt, seine Flügel ausbreitet, sie aufnimmt, sie auf seinen Schwingen trägt; so leitete ihn der HERR allein« (5Mo 32,11). Das hier beschriebene Bild ist wunderschön und wurde schon oft in den buntesten Farben geschildert:
»Genau zum richtigen Zeitpunkt stört der Adler sein Nest auf und stößt seine Jungen hinaus, damit sie das Fliegen lernen. Ohne dieses Aufscheuchen würden die Jungvögel zufrieden im Nest bleiben und weiter ihre Eltern für die Nahrung sorgen lassen … Während der junge Adler hinabfällt und seine Flügel auszubreiten sucht, schwebt die Adlermutter über ihm und beobachtet ihn. Genau im richtigen Moment taucht sie mit einer schwungvollen Flugbewegung unter das fallende Junge und bringt es zurück ins Nest. Dieser Vorgang wiederholt sich so lange, bis der Jungvogel das Fliegen erlernt hat.«
Diese ergreifende Beschreibung scheint gut zur Aussage des Bibeltextes zu passen. In dem anonym erschienenen Artikel beschreibt jemand zuerst, wie er einen Weißkopfseeadler (Haliaeetus leucocephalus) beim Jagen zusieht, um dann zu Mose überzuleiten, der »etwas Ähnliches beobachtet habe«. Doch leider ist Moses Schilderung ganz und gar nicht ähnlich. Dass Greifvögel im Sturzflug auf ihre Beute herabstoßen, ist alltäglich, aber weltweit wurde noch niemals dokumentiert, dass ein Adler oder Geier (oder sonst irgendein Vogel!) seine Jungen aus dem Nest geworfen hätte, um ihnen das Fliegen beizubringen oder sie auf seinem Rücken oder gar seinen Flügeln wieder ins Nest zurückgetragen hätte. Dem Adler traut man in Legenden so einiges zu: »Dann breitet er seine breiten, starken Flügel aus und lässt das Junge darauf ausruhen. Kann er es denn tragen? Der große Adler würde wohl lachen, wenn wir ihn fragen könnten. ‚Aber sicher kann ich das‘, würde er sagen. ‚Ich kann ein Schaf oder eine Gans kilometerweit bis zu meinem Horst oben in den einsamen Felswänden tragen – und da sollte ich mein Kleines nicht tragen können?‘«
Nein – der Adler kann weder ein Schaf in seinen Fängen noch seine Jungen auf dem Rücken (oder gar den schwingenden Flügeln) tragen. Wenn die Jungtiere von Adlern oder Geiern fliegen lernen, haben sie schon fast die Größe ihrer Eltern! Dass diese in ihrer Nähe bleiben und über ihnen wachen ist keine Frage und wird auch an anderer Stelle beschrieben: »Wie ein Vogel über seinem Nest schwebt, um über seine Jungen zu wachen, so werde ich, der Herrscher der Welt, Jerusalem beschützen« (Jes 31,5 GN). Aber keine der bekannten Greifvogelarten ist auch nur annähernd dazu in der Lage, seine Jungen auf dem Rücken zu tragen, geschweige denn, sie im Flug dort aufzunehmen. Aber genau das wird auch noch in einer weiteren Stelle beschrieben: »Ihr habt gesehen … wie ich euch auf Adlers Flügeln getragen und euch zu mir gebracht habe« (2Mo 19,4). Sicher ist, dass Gottes Wort, auch wenn es sich hier nur um eine Naturbeschreibung handelt, keine Unwahrheiten verbreitet. Wir sollten allerdings auch keine fantasievoll ausgeschmückten Legenden in die Bibel hineinlegen.

Von allen hier aufgeführten und vielen weiteren Greifvogelarten gibt es durchgehende Videodokumentationen über alle Phasen des Nistverhaltens. Viele Horste sind sogar mit Webcams bestückt, aber derartiges wurde nie beobachtet. Es gibt tatsächlich in der gesamten ornithologischen Literatur nur einen greifbaren Augenzeugenbericht von 1918, in dem ein Lehrer die Beobachtung einer Schülerin zu Protokoll gibt. Er wurde als Anmerkung im »Bulletin of the Smithsonian Institution« abgedruckt, einer renommierten Wissenschaftszeitschrift. Seither scheint kein Greifvogel mehr auf die Idee gekommen zu sein, dieses Kunststück zu vollführen. Man würde die ganze Geschichte, wie so vieles andere, kurzerhand als Märchen abtun, gäbe es nicht die biblische Beschreibung. Es gibt verschiedene wasserlebende Arten aus den Entenvögeln oder auch den Haubentaucher (Podiceps cristatus), die ihre Jungen schwimmend auf dem Rücken mitnehmen. Von der Waldschnepfe (Scolopax rusticola) ist bekannt, dass sie ihre Jungen ein kurzes Stück im Schnabel tragen kann. Dagegen ließ sich die Darstellung, sie könne die Jungen auch im Brustgefieder aufnehmen, nicht bestätigen. Es gibt nach heutigem Stand der ornithologischen Feldforschung keinen Vogel, der seine Jungen gewohnheitsmäßig im Flug transportiert, auch wenn viele Arten physisch sicherlich dazu in der Lage wären. In der Bibelstelle gibt es keine Hinweise auf Unzulänglichkeit in der Übersetzung oder eine rein symbolische Ausdrucksweise. Man könnte allerdings in der ersten Vershälfte eine Aussage über den Adler sehen, die dann in der zweiten Vershälfte auf Gott übertragen wird. Dabei ist das Handeln Gottes an Israel um ein Vielfaches größer und mächtiger als das Bild dies zum Ausdruck bringt. Denkbar erscheint sonst nur noch, dass es sich um eine unbekannte ausgestorbene Art handelt.
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In der Auflistung der Vögel, deren Verzehr nach dem jüdischen Speisegesetz verboten war, folgt direkt hinter dem nescher, der oznija (3Mo 11,13; 5Mo 14,12). Sein hebräischer Name ist nicht sehr aufschlussreich. Die Silbe oz steht für Kraft und Mut, was zu vielen großen Greifvögeln passt – und mehr als den Namen haben wir nicht. In der LXX wird der Name mit haliaietos wiedergegeben, was eindeutig den Seeadler (Haliaeetus albicilla) bezeichnet. Scheinbar war er schon damals in Israel präsent. Bis heute gibt es einige Brutpaare im Hula-Reservat. Er wird sogar noch etwas größer und schwerer als der Steinadler und als »Geier des Nordens« bezeichnet, da er auch tote Tiere nicht verschmäht.

Quellennachweis:
anonym: Auslegung zu 5Mo 32,11. Folge mir nach 2021; Heft 01 – Rückseite
anonym: Wie der Adler (Die gute Saat, FMN), 06.01.2021; https://www.bibelpraxis.de/index.php?article.4377
Bent, AC: Life Histories of North American Birds of Prey. Smithsonian Institution 1937; Bulletin 167, S. 302, siehe: https://www.biodiversitylibrary.org/item/32701#page/314/ mode/1up
Edelstam, C: Patterns of Moult in Large Birds of Prey. Annales Zoologici Fennici 1984; 21(3):271–276
http://genwiki.genealogy.net/Hückeswagen/Kriegerdenkmal_1870/71 (zur Geschichte des Kriegerdenkmals)
Stresemann, V+E: Die Handschwingenmauser der Tagraubvögel. Journal für Ornithologie 1960(101):373–403; doi: 10.1007/ BF01671228
Struwe-Juhl, B; Schmidt, R: Zur Mauser des Großgefieders beim Seeadler (Haliaeetus albicilla). Journal für Ornithologie 2003 (144):418–437; doi: 10.1007/BF02465505
Underberg, A: Absturzängste – und was der Adler uns sagt. Folge mir nach 2012, Heft 5, S. 12–16
Zuberogoitia, I; Zabala, J; Martínez, JE: Moult in Birds of Prey: A Review of current Knowledge. Ardeola 2018; 65(2):183-207; doi: 10.13157/arla.65.2.2018.rp1
Bildnachweis:
Wikipedia: Kriegerdenkmal neu errichtet, 1873 / unbekannt // Kriegerdenkmal heute / Frank Vincentz // Kriegerdenkmal – neuer Adler / Frank Vincentz // Adler im Hochnest / photos-made-by-me.com //Kirchenfenster, Apostel Johannes mit Adler / Père Igor // Seeadler mit Aas / Bohuš Číčel