Die Familie der Habichtartigen (Accipitridae) umfasst die meisten tagaktiven Greifvögel. Neben den großen Adlern und Geiern, die in einem anderen Artikel behandelt werden, zählen Habichte, Bussarde, Weihen und Sperber dazu. Sie alle sind Raptoren – Raubvögel.
Es ist nicht exakt möglich, die hebräische Bezeichnung nez den heute bekannten Arten zuzuordnen, aber sie gilt mit Sicherheit einem ihrer Vertreter oder einem der nahestehenden Falkenartigen (Falconidae). In folgendem Vers wird auf seine Eigenschaft als Zugvogel hingewiesen: »Breitet der Falke seine Schwingen aus, um nach Süden zu fliegen, weil du den Wandertrieb in ihn gelegt hast?« (Hi 39,26 HfA).
abzugs:fähig
Es gibt heute in Israel kaum Brutvögel, die zum Überwintern nach Süden wandern, wohl aber einige Migranten, die auf der Durchreise sind. Die meisten Vögel haben die Fähigkeit zur Migration, allerdings passt sich das Zugverhalten immer wieder der klimatischen Situation an. In keinem Buch der Bibel ist häufiger von Schnee und Eis die Rede als in Hiob. Vielleicht lässt sich daraus ableiten, dass es die Situation im Nahen Osten während der Eiszeit beschreibt. Unter diesen Bedingungen werden viele Vögel aus der Region in ein wärmeres Winterquartier gezogen sein, die dies heute nicht mehr tun. Heutige »Standvögel«, die sich das ganze Jahr im gleichen Revier aufhalten, waren möglicherweise zu Hiobs Zeit Mittelstreckenzieher, die in Zentralafrika überwinterten.

Es ist erstaunlich, wie die Fernreisenden als Jungvögel einer Route folgen, die sie nie zuvor geflogen sind, und die sie in ein gänzlich unbekanntes Land führt. Analog dazu schwingt in dem zitierten Vers (Hi 39,26) zwischen den Zeilen die unausgesprochene Frage mit: »Traust du mir zu, dass ich dich zu einem guten Ziel bringe, auch wenn mein Weg dir unbekannt ist und dich sehr befremdet?« Auch Abraham wanderte aus seiner Heimat aus und vertraute sich ganz der Führung Gottes an: »Warum machte er sich auf den Weg, obwohl er nicht wusste, wohin er kommen würde? Der Grund dafür war sein Glaube« (Heb 11,8 NGÜ). Gott, der große Navigator, der den Zugvögeln Weg und Ziel gibt, liegt noch viel mehr daran, den Menschen an sein gutes Ziel zu leiten.
avi:atik
Eine andere Übersetzung legt den Fokus auf das fliegerische Talent: »Bist du vielleicht der einsichtsvolle Lehrer, bei dem der Falke seine Flugkunst lernte …« (Hi 39,26 GN). Möglicherweise ist hier von dem Wanderfalken (Falco peregrinus) die Rede, der als Teil seines Balzprogramms in atemberaubendem Tempo halsbrecherische Sturzflüge ausführt. Hat die Stuntshow das Weibchen in Stimmung gebracht, schwingt dieses sich ebenfalls in die Luft und hängt sich an seine »Fersen«. Es sieht fast so aus, als ob die beiden um die Wette flögen, mitunter berühren sie sich im pfeilschnellen Parallelflug sogar mit der Brust und dem Schnabel. Gemeinsam mit dem Mauersegler ist der Wanderfalke das schnellste Tier überhaupt. Er ist allerdings nur mit vollständigem Federkleid zu diesen Höchstleistungen in der Lage. Während der Mauser scheint es ihn zu frustrieren, dass er nicht voll aufdrehen kann. Man hat bei abgerichteten Jagdfalken beobachtet, dass sie dann sehr unwillig und gereizt sind. Ein freches Verhalten wird seither mit der Redensart »sich mausig machen« bezeichnet.

Einige Bibelübersetzungen geben nez als Habicht (Accipiter gentilis) wieder, was ebenfalls plausibel ist. Er erreicht zwar nicht die extremen Spitzengeschwindigkeiten des Falken, ist aber ebenfalls ein wahrer Flugkünstler – der wendigste Greif überhaupt – der sich seine Beute mit akrobatischen Flugmanövern selbst im dichten Wald aus der Luft angelt. In Israel kommt er heute nur noch als seltener Wintergast vor.

zu:greifen
Drei weitere hebräische Begriffe bezeichnen wahrscheinlich ebenfalls Greifvögel aus den Familien der Habicht- und Falkenartigen: Ein einziges Mal tauchen da‘a (3Mo 11,14) und ra‘a (5Mo 14,13) in den Speisegeboten auf – jeweils an der gleichen Stelle der Aufzählung, was vermuten lässt, dass es sich bei ra‘a um einen Schreibfehler handelt. Im gleichen Vers fehlt nämlich auch der dajja (Schmutzgeier). Ein Kopist ohne Ornithologie-Studium kann bei den gleichklingenden Namen schnell durcheinanderkommen. Man beachte außerdem die Ähnlichkeit der Schriftzeichen. Auch die LXX hilft bei der Artbestimmung nicht weiter. Hier steht in beiden Versen gypa, was sich nicht zuordnen lässt und eher auf eine Geierart hinweist. Ein weiterer ähnlich klingender Name ist aja (3Mo 11,14; 5Mo 14,13; Hi 28,7). Er wird in sechs Versen als Personenname verwendet. Ein Horiter, Sohn des Zibeon (1Mo 36,24; 1Chr 1,40), und der Vater von Rizpa (2Sam 3,7; 21,8.10.11) hießen so. Da es keine weiteren Hinweise gibt, kann jeder Übersetzer einen plausiblen Greif vorschlagen.

Der Turmfalke (Falco tinnunculus), der kleiner als der Wanderfalke ist und etwas bescheidener auftritt, der Schwarze Milan (Milvus migrans), Rohrweihe (Circus aeruginosus), Gleitaar (Elanus caeruleus) und der Adlerbussard (Buteo rufinus) kommen bis heute ganzjährig in Israel vor und sind allesamt mögliche Kandidaten. Sakerfalke (Falco cherrug), Merlin (Falco columbarius), Sperber (Accipiter nisus) und Mäusebussard (Buteo buteo) dagegen sind nur als Wintergäste da. Seltener lassen sich Wespenbussard (Pernis apivorus), Steppenweihe (Circus macrourus), Rötelfalke (Falco naumanni), Rotfußfalke (Falco vespertinus), Baumfalke (Falco subbuteo), Eleonorenfalke (Falco eleonorae), Lannerfalke (Falco biarmicus) und Schieferfalke (Falco concolor) blicken. Sie alle kommen als typische Vertreter in Frage. Etwas abwegig ist dagegen die Zuordnung der Gabelweihe (Milvus milvus), besser bekannt als Roter Milan in einigen Übersetzungen (Lu, Hfa), zu deren Verbreitungsgebiet Israel und der Nahe Osten normalerweise nicht gehören.

urin:violett
Greifvögel sehen die Welt nicht nur räumlich und zeitlich höher aufgelöst, heller, bunter und weiträumiger, sondern sie nutzen auch ihre besondere Fähigkeit UV-Licht wahrzunehmen. Beim Turmfalken konnte experimentell nachgewiesen werden, dass er die Laufwege, Futterplätze und Nesteingänge von Mäusen an ultraviolett-fluoreszierenden Harnspuren erkennt. Er sucht sich eine Position, wo er dieses verräterische Routenprofil gut im Blick hat und »rüttelt« im Standflug darüber, bis seine Beute auftaucht. Die arme Feldmaus, die wenig später in seinen Fängen endet, wird nie erfahren, wie er ihr auf die Schliche kam. Möglicherweise war es nicht einmal ihre Schuld … Ihre Nachbarin, die Wühlmaus scheint zu wissen, dass der Falke Urin sieht. Sie pinkelt gezielt vor die Schlupfwinkel der Nahrungskonkurrenz und liefert sie damit ans Messer. Wie diese »arglistige« Verhaltensweise entstanden ist, bleibt bisher rätselhaft.

Quellennachweis:
Alerstam, T: Radar observations of the stoop of the Peregrine Falcon Falco peregrinus and the Goshawk Accipiter gentilis. IBIS International Journal of Avian Science 1987; 129:267–273
Ponitz, B; Schmitz, A; Fischer, D: Diving-Flight Aerodynamics of a Peregrine Falcon (Falco peregrinus). PLoS ONE 2014; e86506; doi: 10.1371/journal.pone.0086506
Tucker, VA: Gliding Flight: Speed and Acceleration of ideal Falcons during Diving and Pull out. Journal of Experimental Biology 1998; 201:403–414
Viitala, J; Korpimäki, E; Palokangas P: Attraction of kestrels to vole scent marks visible in ultraviolet light. Nature 1995; 373:425–427; doi: 10.1038/373425a0
www.birdsinslowmotion.com (Zeitlupenaufnahmen des Habichtflugs)
Bildnachweis:
Wikipedia: Adlerbussard / Pallav Pranjal // Wanderfalke im Sturzflug / Peregrine Falcon (5696218357).jpg / Tony Hisgett // Turmfalke im Rüttelflug / Common-Kestrel-5.jpg / Andreas Trepte // Schwarzer Milan / Thomas Kraft // Gleitaar / J. M. Garg
andere Lizenzen: Habicht Titel / shutterstock_1893402910.jpg / Wang LiQiang // Habicht turnt durch den Wald / shutterstock_561579130.jpg / Vladimir Hodac
Link zum Buch: https://www.daniel-verlag.de/produkt/federfuehrer
