Der Geier hat es nicht besonders eilig. Als Aasfresser läuft ihm seine Beute nicht davon. Er muss nur zusehen, dass er rechtzeitig eintrifft, um genug abzubekommen, aber die Reihenfolge, in der sich die Gäste beim Leichenschmaus bedienen, ist weitgehend festgelegt.
Immer, wenn im Zusammenhang mit der hebräischen Bezeichnung nescher oder dem griechischen aetos von Schnelligkeit und Wildheit die Rede ist, können wir sicher sein, dass nicht er, sondern der Adler gemeint ist.

Es ist schwer zu sagen, welche der heute bekannten Geier-Arten in der Bibel angesprochen werden, möglich wären mehrere Kandidaten. Der Gänsegeier (Gyps fulvus) ist von Portugal bis Hinterindien fast überall in dieser Breite anzutreffen und auch in Israel zuhause. Der einzige Kandidat, der eine richtige Glatze trägt, ist der Ohrengeier (Torgos tracheliotos). Er kam bis in die Neuzeit vor, gilt aber inzwischen im Nahen Osten als fast ausgestorben. Der Mönchs- oder Kuttengeier (Aegypius monachus) ist in Israel heute nur noch als Wintergast vertreten. Alle drei Arten sind größer als der Steinadler, zeigen ein sehr ähnliches Flugprofil und teilen die hier beschriebenen, geiertypischen Verhaltensweisen.
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Die großen Greifvögel brüten in unzugänglichen Höhenhorsten im Gebirge (Hi 39,27.28). Zwischen schroffen Felsen und Klüften gibt es nichts, was sie bedrohen könnte. Vor der Entwicklung alpinistischer Klettertechnik und flugtauglicher Geräte (Helikopter, Drohnen) waren sie dort für den Menschen unerreichbar (von tierischen Feinden haben sie dort ohnehin nichts zu befürchten). Eine komfortable Situation! Doch Gott warnt in seinen Gerichtsbotschaften selbstsichere Menschen und Völker mit diesem Vergleich – seinem Zugriff kann sich niemand entziehen: »Wehe dem, der ungerechten Gewinn macht für sein Haus, um dann sein Nest in der Höhe anzulegen und sicher zu sein vor dem Unglück!« (Hab 2,9 SB, vgl. Jer 49,16; Ob 1,4).

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Dieser Nistplatz ist zwar sehr sicher, bietet in der Einöde aber kaum etwas zu fressen. Mit seiner phänomenalen Sehkraft kann er seine Nahrung allerdings aus großer Entfernung erblicken: »Von dort aus erspäht er sich Beute, seine Augen schweifen weit umher« (Hi 39,29 SB). Er kann achtmal schärfer sehen als der Mensch und nimmt ein Tier von der Größe einer Maus, die wir mit viel Fantasie in 100 Meter Entfernung noch erkennen, selbst aus drei Kilometern Höhe wahr. Hätte das menschliche Auge dasselbe Auflösungsvermögen, könnten wir den Text einer Tageszeitung noch in einem Abstand von 150 Metern lesen. Während sich auf unserer Netzhaut 120 Millionen Stäbchen befinden, sind es bei den Greifvögeln mindestens fünfmal mehr – auf einer halb so großen Fläche! Sie sehen nicht nur schärfer, sondern auch bunter: von den Zapfen, die für die Farbwahrnehmung verantwortlich sind, hat der Mensch drei verschiedene Typen, tagaktive Greifvögel haben vier. Außerdem sind Öltröpfchen in fünf verschiedenen Farben als vorgeschaltete Filter in den Sehzellen eingelagert (und bei manchen Arten zusätzlich glasklare Tröpfchen für die Wahrnehmung ultravioletten Lichts!). Die Vogelaugen verarbeiten bis zu 180 Bilder pro Sekunde (der Mensch nur 10–70) und erreichen damit eine bessere Bewegungserkennung und Reaktionszeit. Während es unter den »Neuweltgeiern« Amerikas Arten wie den Truthahngeier gibt, die Aas aus großer Entfernung riechen können, verlassen sich ihre Verwandten in der »Alten Welt« ganz auf ihren ausgezeichneten Sehsinn und kommen damit gut ans Ziel.
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Ein typisches Kennzeichen aller Geier ist das Auftreten in großen Scharen, sobald irgendwo ein Kadaver entdeckt wird. Der Herr Jesus bekräftigt eine Gerichtsankündigung mit den Worten: »Dies wird so gewiss geschehen, wie sich die Geier um ein verendetes Tier scharen« (Mt 24,28 HfA, vgl. Lk 17,37; Hi 39,30). Wie kommt es, dass diese Aasfresser unmittelbar nach dem Tod eines Tieres oder Menschen in großer Zahl zur Stelle sind – so verlässlich wie ein »Naturgesetz«?

Grund dafür ist ihre geniale Suchstrategie: Die einzelnen Vögel fliegen in großer Höhe und überblicken ein riesiges Terrain, behalten aber gleichzeitig ihre Artgenossen im Auge, die einige Kilometer entfernt kreisen. Sobald ein Kollege aus dem »Scanmodus« in den Sinkflug wechselt, schließen sich die Nachbarn ringsum an, die im Gefolge wiederum ihre Nachbarn anlocken und so weiter. Auf diese Weise versammelt sich die ganze Geierschaft eines großen Einzugsgebietes in kürzester Zeit zum Festmahl. So versorgt Gott die Geier samt ihren Jungen in der felsigen Einöde mit Nahrung.

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Geier sind nicht wählerisch, was das Nahrungsangebot betrifft. Sie schrecken auch vor alten Schlachtabfällen und stark verwesten Beuteresten, die ihnen von Raubtieren überlassen werden, nicht zurück. Ihre scharfen Magensäfte werden selbst mit Abbauprodukten fertig, an denen sich die meisten anderen Tiere vergiften würden. Dem menschlichen Beobachter dreht sich allerdings beim Anblick der völlig zerfledderten Kadaver schnell der Magen um, besonders, wenn er die atemberaubenden Gerüche inhaliert. Dazu kommt, dass Geier – ohne jede Sentimentalität – auch menschliche Leichname verspeisen: »Ein Auge, das den Vater verspottet und die greise Mutter verachtet, das müssen … die jungen Geier fressen« (Spr 30,17 Me). Kein Wunder, dass sie nicht gerade den besten Ruf haben. Kein Bibelübersetzer käme auf die Idee, den vier lebendigen Wesen vor dem Thron Gottes (Hes 1,10; 10,14; Offb 4,7) Geiergesichter zuzuordnen.

Die Übertragung hygienischer Ideale auf natürliche Verhaltensweisen scheint allerdings eher ein neuzeitliches Phänomen zu sein. So unglaublich es klingt, in antiken Kulturen (Ägypten, Babylonien) war der Geier das Symbol für Reinheit und Reinlichkeit. Dabei ist das gar nicht so abwegig – schließlich hinterlässt die Gästeschar ein blitzeblank aufgeräumtes Bankett! Sieht man genauer hin, gibt es eine weitere Erklärung: Obwohl die Vögel mitunter fast in den aufgebrochenen Kadavern zu verschwinden scheinen, besudeln sie sich dabei kaum. Ihre Federn sind ausgesprochen schmutzabweisend und die Kopf- und Haarpartie ist nur schwach befiedert, manchmal sogar völlig nackt. Auf dieses äußere Kennzeichen vieler Geierarten nimmt der Prophet Micha Bezug: »… mache deine Glatze breit wie die des Geiers« (Mi 1,16).

Nach jeder Mahlzeit unterziehen sie sich einem gründlichen Reinigungsritual. Außerdem baden sie gerne und legen große Strecken zurück, um ihre Wellness-Pools aufzusuchen – klare Felstümpel, in denen sie ausgiebig herumplanschen. Anschließend spannen sie die mächtigen Schwingen auf und lassen ihr herrlich glänzendes Gefieder von der Sonne trocknen. Man braucht nicht in die Steppe oder Wüste zu reisen, um sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen – in vielen Zoos und Tierparks kann man diese wunderschönen, stolzen und beeindruckenden Tiere bewundern.
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Der Schmutzgeier (Neophron percnopterus) ist deutlich kleiner als die drei eingangs erwähnten Arten und fällt daher etwas aus dem Rahmen. Möglicherweise kann ihm die Bezeichnung dajja zugeordnet werden. Das Auf treten in Gruppen, unabhängig von gemeinsamen Mahlzeiten, und das Wohnen in Ruinen passen jedenfalls gut zu ihm: »Ja, dort versammeln sich die Geier, einer neben dem anderen« (Jes 34,15 Einh, sonst nur noch in 5Mo 14,13). Als Bewohner dieser Einöde werden zwei Verse zuvor auch Strauße genannt. Das könnte ein weiterer Hinweis in diese Richtung sein. Man kann ihn nämlich immer wieder dabei beobachten, wie er zielsicher Steine auf Straußeneier wirft, um sie dadurch zu zerbrechen und an den nahrhaften Inhalt zu gelangen. Da die Schale so dick wie eine Porzellantasse ist, wiegen geeignete Wurfgeschosse, die er oft von weither einfliegen muss, bis zu 500 Gramm. Sobald Strauße in der Nähe brüten, geht es ihm gut.

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Eine weitere Art, die hier Erwähnung finden muss, ist der Bartgeier (Gypaetus barbatus). Er wird zwar nur im Speisegesetz erwähnt (3Mo 11,13; 5Mo 14,12), aber seine hebräische Bezeichnung peres (Zerbrecher) und ähnliche Namen in anderen Sprachen deuten auf seine be sondere Ernährungsweise hin: Er hat sich nämlich ganz auf den Verzehr von Knochen spezialisiert. Exemplare bis 18 cm Länge und 3 cm Durchmesser schluckt er einfach am Stück – seine besonders scharfen Magensäfte werden damit problemlos fertig. Dickere Brocken, wie Wirbelkörper oder Oberschenkelknochen großer Säugetiere, für die sich ohnehin niemand sonst interessiert, hievt er in die Höhe und lässt sie – wenn nötig bis zu 40-mal hintereinander – auf seine private »Knochenschmiede«, eine ebene Felsplatte, fallen, bis sie in Stücke zerspringen. Es ist eine mühsame Arbeit, aber in zwei Tagen verschwindet so die gesamte Wirbelsäule eines Rindes in seiner dehnbaren Mundspalte. Offenbar hat man ihn vielerorts dabei beobachtet. Ob »ossifrage« im Englischen, »quebrantahuesos« im Spanischen, »quebra-ossos« im Portugiesischen oder »Beinbrecher« im Deutschen (so auch in der Überarbeiteten Elberfelder Bibel) – die Bedeutung ist überall dieselbe.
Man sieht den großen Skelettbestandteilen ihre inneren Werte nicht an, aber das Knochenmark zählt zu den ergiebigsten Substraten tierischer Nahrung. Der Bartgeier ernährt sich zu etwa 80 Prozent davon. Zum großen Leidwesen von Landschildkröten ist er sich seiner besonderen Begabung als »Panzerknacker« sehr wohl bewusst, sodass ihnen ein ähnliches Schicksal droht, wann immer er ihrer habhaft wird. Leider wird er in Israel nur noch selten gesichtet.

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Darüber hinaus gibt es noch die Bezeichnung racham (3Mo 11,18; 5Mo 14,17), die in den meisten deutschen Bibelübersetzungen mit »Aasgeier« wiedergegeben wird. Genaueres lässt sich nicht in Erfahrung bringen. Man könnte sich fragen: »Weiß der Geier warum?« – sollte aber auf diese Redewendung besser verzichten, da es sich um eine Fluchform handelt, bei der man den Teufel durch ein genauso unsympathisches Wesen ersetzt (wie auch bei »Weiß der Kuckuck?«). In der LXX steht jedenfalls kyknon, was auf eine weißliche Färbung hindeutet. Das könnte zum Fischadler (Pandion haliaetus) passen, der in Israel heimisch ist und eine weiße Brust hat. Er nimmt auch mit Aas vorlieb und wurde schon im Mittelalter als »Fischgeyer« bezeichnet. Aber noch besser passt es zum Gänsegeier (Gyps fulvus), dem verbreitetsten Aasgeier überhaupt.
Das hebräische Wort ajit wird in sieben Versen erwähnt (1Mo 15,11; Hi 28,7; Jes 18,6; 46,11; Jer 12,9; Hes 39,4), davon viermal als Aasfresser. Da keine weiteren Angaben oder sprachlichen Verbindungen bekannt sind, könnte es sowohl eine der einheimischen Geierarten benennen als auch eine Sammelbezeichnung sein, die möglicherweise auch Habichtartige und Rabenvögel miteinschließt. Einige Bibelübersetzungen lassen das offen, indem sie den Begriff verallgemeinernd als »Raubvögel« wiedergeben.
weg:streich
Am Boden wirken die eleganten Thermiksegler ungelenk und tollpatschig. Teilweise stolpern sie übereinander, wenn sie um einen Kadaver herumhüpfen, und sich die Bäuche in kürzester Zeit so vollschlagen, bis nichts mehr geht. Das kann schonmal zu ernsthaften Startschwierigkeiten führen, sodass im Notfall, etwa wenn Hyänen sie verfolgen, sogar ein Teil der Beute wieder hervorgewürgt wird, um abstreichen zu können. Doch so schwerfällig das auch aussieht, wenn’s drauf ankommt, können sie ganz schnell verschwinden. Jemanden, der auf seine Cleverness und sein Vermögen vertraut, vergleicht Salomo mit einem ähnlichen Bild: »Betrachtest du ihn [den Reichtum] nur flüchtig, ist er schon weg, denn er wird sich gewiss Flügel machen und wie ein Geier zum Himmel fliegen« (Spr 23,5 Einh).
vogel:perspektive
Ein schöner Charakterzug der großen Taggreife ist, dass sie sich aufschwingen und in der Höhe wohnen können. Gott ermutigt den niedergedrückten Hiob mit diesem Beispiel: »seine Augen schauen ins Weite« (Hi 39,29 Einh) und fordert ihn auf, seine Situation aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Doch noch sitzt Hiob auf der Erde, in der Asche und hat nur Elend, Zerstörung und Tod vor Augen. Glücklicherweise endet das Buch aber mit dem Ausruf: »nun hat mein Auge dich gesehen!« (Hi 42,5). Auch uns kann der Anblick der hochkreisenden Späher erinnern: Während wir zwischen den Wänden eines Labyrinths herumirren, ist der Ausgang von oben gut zu sehen. Gott möchte, dass wir im Geist an seiner »Vogelperspektive« teilhaben: »Ich erhebe meine Augen zu dir, der du in den Himmeln thronst!« (Ps 123,1).

Quellennachweis:
AFP : Pyrénées-Atlantiques : dévorée par les vautours deux heures après sa chute? Le Point 03.05.2013
Boemans, B: http://geierwelt.blogspot.com
https://www.monaconatureencyclopedia.com/torgos- tracheliotus/?lang=en (zur Namensherkunft des Ohrengeiers)
Schulze, CM: Zur Morphologie der physiologischen Foveae am Augenhintergrund von Greifvögeln und Eulen mittels Optischer Kohärenztomografie. 2016 Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Tierärztlichen Fakultät der Ludwig- Maximilians-Universität München
Schunke, C: Okularer Befunde bei Greif- und Eulenvögeln. 2017 Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Veterinärmedizin an der Freien Universität Berlin
Bildnachweis:
Wikipedia: fliegender Gyps_fulvus / Luc Viatour // Geier Mahlzeit mit Zebra / Sharp Photography // Ohrengeier ganz / Lip Kee Yap // Gänsegeier von hinten / Descobrimentos novos // Bartgeier / Richard Bartz // hochfliegender Gänsegeier / MatthiasKabel
andere Lizenzen: Gänsegeier im Höhennest / shutterstock_1302944821.jpg / Tony Skerl // Krähen und Geier am Fraß / AdobeStock_181517813.jpeg / Tatiana // Schmutzgeier mit Ei / shutterstock_1104467927.jpg / SanderMeertinsPhotography
Link zum Buch: https://www.daniel-verlag.de/produkt/federfuehrer
